Produktionen seit 1992 - 1995

z u r ü c k

Woyzeck - Bin ich ein Mensch?

"Ich verachte niemanden, am wenigsten wegen seines Verstandes oder seiner Bildung, weil es in niemands Gewalt liegt, kein Dummkopf oder Verbrecher zu werden - weil wir durch die gleichen Umstände wohl alle gleich würden und weil die Umstände außer uns liegen." (Brief Georg Büchners an die Familie, Februar 1834) Leipzig. Am 21. Juni 1821 ersticht der stellungs- und obdachlose Perückenmachergesell Johann Christian Woyzeck seine Geliebte im Hauseingang ihrer Wohnung. Das Motiv: Eifersucht, offensichtlich. Während des Verfahrens verbreitet sich die Nachricht, daß der Mörder zuvor zeitweise an Bewußtseinsstörungen gelitten habe. Das Gericht überträgt dem Hofarzt Clarus die Untersuchung des Gemütszustandes Woyzecks. Der Fall sorgt für Aufsehen, eine öffentlich Diskussion um die Zurechnungs- und damit Straffähigkeit des Täters setzt ein. Das Todesurteil wird mehrmals aufgeschoben, bis Clarus nach monatelangen Visitationen ein endgültiges Gutachten vorlegt. Er rekonstruiert Woyzecks Lebensstationen: Wanderschaft und Gelegenheitsarbeiten, Militärdienst, lange - rezessionsbedingte - Arbeitslosigkeit, kurz, ein unstetes Leben mit wechselnden Frauen-Beziehungen, depressiven Schüben und Alkoholismus. Doch die soziale Notlage spielt für Clarus keine Rolle. Woyzecks Halluzinationen deutet der Arzt als Folge unordentlichem Blutumlaufes aufgrund ungeregelter Lebensweise. Die Diagnose lautet: Woyzeck zeige zwar "viel moralische Verwilderung, Abstumpfung gegen natürliche Gefühle und wahre Gleichgültigkeit in Rücksicht auf Gegenwart und Zukunft" sowie "Mangel an äußerer und innerer Haltung" - jedoch keinerlei Anzeichen geistiger Störung. Der Fall wird der "heranwachsenden Jugend" zur Mahnung präsentiert, wohin "Arbeitsscheu, Spiel, Trunksucht, ungesetzmäßige Befriedigung der Geschlechtslust und schlechte Gesellschaft" zu führen vermögen. Woyzeck wird am 27. August 1834 geköpft. Ist die Biografie des Täters geradezu ein Musterbeispiel für die Lage der sozial Deklassierten - zeigt Büchners "Woyzeck"-Fragment die rast- und ortlos geschundene Kreatur im Räderwerk geschichtlicher und sozialer Umwälzungen. Abgerichtet durch seine soziale Umgebung erscheint Woyzeck als jemand, dessen Natur bereits derart ge- und verformt wird, daß er selbst nicht mehr um die eigene Natur als Mensch und Mann weiß. Die Machtmechanismen einer patriarchalischen Ordnung infizieren gleichermaßen das Selbstbildnis aller Figuren, auch Maries, der Frau. Bezeichnenderweise ist sie es, die fragt: "Bin ich ein Mensch?". Das Subjekt als Kriegsschauplatz, als permanenter Ausnahmezustand. Viele sind Woyzeck. Wenn die "Ratten" Büchner spielen, legen sie die Persönlichkeitsschichten der Figuren frei und auch die Projektionen des Autors und seiner unzähligen Interpreten? Der Hymnus auf den asozialen Helden, das Mitleidsgesäusel? In dem sich die Mitwirkenden nicht einzig "in das Leben des Geringsten (senken)", sondern Gelesenes und Gelebtes miteinander verschmelzen, verleihen sie den Figuren wie sich selbst Stimme und lassen das Problem der Zusammenführung von Kunst und Leben auf ihre Weise hinter sich. Fürs erste. Mit Charly, Rolfi Fahrenkroog-Petersen, Luc Feit, Detlef Golatka, J.K.D., Hunni, Lenin, Monster, Sandy, Anna Scheer, Mex Schlüpfer, Gunter Seidler, Tommes, Sabine Vitua, Heinz Wienke, Wolfgang Sisyphus Graubart. Auch die siebente Inszenierung des Obdachlosentheaters "Ratten" ist eine Zusammenarbeit mit professionellen Schauspielern.

Regie: Roland Brus
Bühne: Bernd Schneider
Kostüme: Michaela Barth

Premiere ist am 9. März um 20:00 Uhr im 3. Stock

Zum vergrößern auf die Bilder klicken!

n a c h   o b e n